Hintergrund

Betrachtung über die Darstellung des heiligen  Martin in der Pfarrkirche St. Hubertus in Kempen-St. Hubert

Bei einem Kunsthändler in Kevelaer entdeckte ich im Herbst 1998  eine Skulptur des heiligen Martin. Es war die allgemein bekannte Darstellung des Heiligen: Der berittene römische Soldat, der mit einem Bettler seinen Mantel teilt. Bald fanden sich auch zwei Sponsoren. So konnte ich dieses Kunstwerk für unsere Kirche erwerben. Die Skulptur wies allerdings einige Beschädigungen auf, die eine Restaurierung dringend erforderlich machten.

Dankenswerterweise erbot sich das hiesige Martinskomitee, diese Kosten zu übernehmen.  Bei der Kirchenrenovierung 1999 konnten wir dann der Martinsdarstellung in unserem Gotteshaus einen gesicherten Platz  geben an der zweiten Säule auf der rechten Seite.

Seitdem steht der Ritter der christlichen Barmherzigkeit bildhaft vor den Kirchenbesuchern. Es handelt sich bei diesem Kunstwerk  um eine spätgotische Schnitzarbeit, die um das Jahr 1500 in Mecheln, in Flandern, entstanden ist. Hier, in Mecheln, hatte der Kunsthändler die Martinsfigur auf einem Speicher entdeckt.

Im ausgehenden Mittelalter gab es neben Antwerpen und Brüssel auch im benachbarten Mecheln überaus betriebsame und ebenso geschäftstüchtige Maler und Bildhauer, die ihre Arbeiten nach ganz Westeuropa lieferten, besonders an den Niederrhein. Die trennenden Grenzen, die das 19. Jh. auf den Landkarten und in den Köpfen festgeschrieben hat, kannte man damals noch nicht.

Manches lässt darauf schliessen, dass unsere Martinsfigur ursprünglich die Bekrönung eines Flügelaltares gewesen ist, wie noch heute auf dem gleichaltrigen Antwerpener Schnitzaltar in der Martinskirche in Jülich-Barmen zu sehen ist.

Die Restauratorin hat bei ihrer Arbeit mehrere Farbschichten entdeckt. In der Barockzeit wurde unsere Martinskulptur übermalt. So ist etwa das Pferd ursprünglich ein Apfelschimmel gewesen, das geschnitzte Zaumzeug und ebenso die Stulpenstiefel des Martin wurden teilweise vergoldet. Dagegen blieb der alte Zustand figürlich erhalten.

Während Martin und der Bettler recht lebhaft dargestellt sind, wirkt das Pferd ein wenig steif.  In der Anatomie eines Pferdes kannte sich der Bildschnitzer wohl nicht so gut aus. Es hat Schlitzaugen, während das rechte Vorderbein etwas angewinkelt ist, ist das linke Bein recht  ungelenk, das Hinterteil des Pferdes ist zu hoch geraten.

Aber trotz dieser kleinen anatomischen Unebenheiten ist die Skulptur ein Kleinod, auf das wir stolz sein dürfen.

Seit dem Mittelalter beschränkt sich die Kunst bei den Martinsdastellungen fast ausschliesslich auf die Szene der Mantelteilung. Es gibt im Xantener Dom noch eine andere Darstellung des Heiligen: Martin trägt die bischöflichen Insignien, den Stab und die Mitra. Vor ihm kauert der Bettller, der ihm eine Sammelbüchse hinhält, in die Martin eine Münze legt. Also auch hier ist Martin der Heilige der Nächstenliebe. Gerade die Liebestat hat Martin berühmt gemacht. Unter dem gnadenlosen Gesetz des römischen Kriegsgottes übt Martin wie selbst-verständlich Erbarmen im christlichen Sinn. In der Folgezeit hat  die christliche Caritas bedeutend größere  Leistungen vollbracht. Doch gerade die kleinen, selbstverständlichen Erweise der Nächstenliebe bestimmen die Atmosphäre des menschlichen Miteinander. Diese flüchtige Hilfsbereitschaft des Martin ist der Ausdruck für den beginnenden Gesinnungswandel, der sich mit der Übernahme der christlichen Botschaft und der sich daraus resultierenden Wertvorstellung anbahnte. In dem jugendlichen Offizier, der sich nach vollbrachter Liebestat eilig mit seinem Mantelteil davonmacht, hat gleichsam die Abkehr von der grausamen Einstellung der heidnischen Spätantike zu den menschenfreundlichen Vorstellungen der christlichen Botschaft Gestalt angenommen.

Der Biograph des Martin, Sulpicius Severus ( gest. um 420), ein Zeitgenosse und Verehrer des Heiligen, schildert  diese Begebenheit: „Als Martin nichts ausser den Waffen und der einfachen Soldatenkleidung bei sich hatte, begegnete er einmal im Winter, der von so

außergewöhnlicher Härte war, dass viele vor lauter Kälte starben, am Stadttor von Amiens einem nackten Armen. Dieser bat die Vorbeigehenden um Erbarmen.

Doch alle liefen an dem Elenden vorüber. Da erkannte Martin, ganz gotterfüllt, dass der Arme, dem die anderen keine Barmherzigkeit schenkten, für ihn aufbewahrt sei. Doch was sollte er tun? Ausser dem Soldatenmantel, mit dem er bekleidet war, hatte er ja nichts. Alles andere nämlich hatte er schon in ähnlichem Tun aufgebraucht. So nahm er denn das Schwert, das er am Gürtel trug, und teilte den Mantel mitten entzwei. Den einen Teil gab er dem Armen, mit dem anderen bekleidete er sich selbst. Von den Umstehenden fingen etliche an zu lachen. Denn in dem halben Mantel sah er recht kümmerlich aus. Viele jedoch, die einsichtiger waren, bedauerten tief, dass sie solches nicht getan hatten, zumal sie viel reicher waren als er und den Armen hätten bekleiden können, ohne selbst dabei nackt zu werden.“ Martin hatte nicht nur Mitleid mit dem Elenden, er hat auch Zivilcourage bewiesen, als er kurzentschlossen zum Schwert griff und den Mantel teilte.

Sein eigentlicher Beweggrund aber war nicht nur reine Mitmenschlichkeit.

In der darauffolgenden Nacht, so berichtet Sulpicius Severus, hatte Martin einen Traum. Er sah Christus mit seiner Mantelhälfte bekleidet. Er fragte Martin, ob er ihn wiedererkenne. Und zu den umstehenden Engel sagte Christus: „Martin, der noch nicht getauft ist, hat mich damit bekleidet.“

Martin war also noch kein Christ, als er sich vor Amiens des Armen erbarmte und mit ihm den Mantel teilte. Doch er bereitete sich schon auf die Taufe vor. Das Christentum war für ihn nicht so sehr eine Sache des Verstehens, sondern zunächst eine Herzensangelegenheit. Er war ernsthaft bemüht, das Wort Christi zu leben: „Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.“(Mt 25, 40)

Danach hat Martin gehandelt.

Gerade das hat der unbekannte Künstler unserer Martinskulptur darzustellen versucht. Martin schaut den Bettler gar nicht an,  sein Blick ist sanft nach oben  gerichtet, in eine weite Ferne, fixiert auf etwas  Fesselndes, auf etwas Schönes und Wichtiges: Martin hat Christus vor Augen.

Der Bettler ist im Vergleich zu Reiter und Pferd viel zu klein, er ist fast ein Nichts. Der Heilige scheint weit weg zu sein von der irdischen Not, fern von den vom  Elend aufgezehrten Armen.

Doch selbst den  kleinsten und geringsten Mitmenschen übersieht derjenige nicht, der auf Christus schaut.

Der Bettler ist nur spärlich mit einem Lendenschurz bekleidet. Er ist nackt und bloss. „Ich war nackt, und ihr habt mich bekleidet,“ sagt Christus. (Mt 25, 36 )

Er ist verkrüppelt, ihm fehlt der linke Fuss. Er kommt allein  nicht weiter im Leben. Er hat zwar eine simple Gehhilfe, eine primitive Holzprothese, wie sie im 16. Jh. wohl allgemein in Gebrauch war. Um sich ein wenig fortbewegen zu können, hält er unter der linken Achsel-höhle eine Krücke.

Der Bedürftige bettelt nicht,  er schaut nicht hilfesuchend auf zu Martin, vielmehr blickt auch er in die Ferne. „Ich habe den Herrn beständig vor Augen, so wanke ich nicht.“(Ps. 16, 7 ) Aus spätrömischer Zeit, aus der Zeit des Martin also, gibt es etliche Grabdenkmäler mit Darstellungen von  Reitersoldaten. Sie zeigen uns, wie Martin wohl ausgesehen hat.

Ganz anders als unsere Skulptur. Er war auch anders gekleidet als die meisten Martinsdarsteller, die alljährlich unseren Lichterzügen voranreiten.

Die römischen Grabmäler zeigen noch mehr: Diese Reitersoldaten lassen ihr Pferd nicht halten vor dem am Boden liegenden Mitmenschen, wie Martin das getan hat. Vielmehr spornen sie ihr Pferd an, so dass es den Ohnmächtigen niederreitet. Der Soldat selbst gibt dem Feind erbarmungslos mit dem Schwert oder mit der Lanze den Todesstoss.

Auch in den Vorstellungen der alten Germanen lebt eine ähnliche Reitergestalt fort, die des Gottes Wodan. Er reitet durch die Lüfte und ermahnt alle, ihm aus dem Weg zu gehen oder sich flach auf die Erde zu werfen, weil sie sonst mit dem „wütenden Herrn“ mittoben müssten.

Hier der dämonische Ritt des unheimlichen Gottes und dort der römische Krieger, der gnadenlos über die am Boden Liegenden hinwegreitet.

Beide  wurden abgelöst durch Martin, den jungen römischen Reiteroffizier, der sich an den christlichen Werten orientiert. Martin hat die kleinen Leute und die scheinbar nebensächlichen Dinge ernst genommen und so gehandelt, als seien es grosse Persönlichkeiten und wichtige Dinge. Die schlichte Frömmigkeit, die Martin von Tours getrieben hat, war seine Zuneigung zu Gott, den er ständig vor Augen hatte, und dessen Führung er sich bedingungslos und ohne Menschenfurcht anvertraut hat. Aus übervollem Herzen hat Martin  auch seine Mitmenschen teilnehmen lassen am Glück seines christlichen Glaubens.

Martin war der Sohn eines römischen Tribun und wurde 316/317 in Sabaria, dem heutigen Steinamanger, in Ungarn geboren. In der italienischen Garnisonsstadt Pavia ist er aufgewachsen. Wie es für den Sohn eines römischen Offiziers üblich war, trat er schon als Fünfzehn-jähriger in den militärischen Dienst und war Soldat unter den Kaisern Constantius und Julian. Er war also noch ein Jugendlicher, als er in Amiens weilte und dem Bettler die Häfte seines Soldatenmantels gab.

Als Achtzehnjähriger liess er sich taufen und gab kurz danach  in Worms seine militärische Laufbahn auf. Darauf begab er sich nach Poitiers zu dem bekannten Bischof Hilarius und wurde dessen Schüler. Von dort ging er  wieder nach Ungarn, um auch seine Eltern für den christlichen Glauben zu gewinnen. Seine Mutter wurde Christin, der Vater dagegen blieb bei seinem alten Götterglauben. Der missionarische Eifer trieb Martin weiter. Über Mailand wanderte er nach Genua und weilte eine Zeitlang auf der Insel Gallinaria vor Albenga an der ligurischen Küste als Eremit. Dann ging er wieder nach Poitier zu Hilarius, der ihm die Priesterweihe erteilte und  ihm südlich der Stadt den Landsitz Ligue` überließ. Dort gründete Martin 361 das erste Kloster Galliens. Zehn Jahre lebte er hier als Mönch. Er unternahm Missionsreisen in die Umgebung und half der Landbevölkerung in ihren mannigfachen Nöten.

Am 4. Juli 371 wählten ihn der Klerus und die Bevölkerung von Tours zu ihrem Bischof. Nur ungern hat Martin diese Wahl angenommen. Vergeblich sucht man in den Quellen  nach Belegen  für jene Szene, derzufolge die Gänse durch ihr Geschnatter Martin in seinem Versteck verraten hätten.

Auch als Bischof blieb  Martin der schlichte Mönch. Auf dem rechten Ufer der Loire oberhalb von Tours nahm er Wohnung in dem Felsenkloster Marmoutier. Es wurde Sitz der Bistumsverwaltung und die Ausbildungsstätte für die künftigen Priester.

Das Beispiel des Martin zog viele junge Männer an. Als er starb, zählte das Kloster achtzig Mönche. Das Vermächtnis des Martin -.die Barmherzigkeit – blieb in der Folgezeit der vornehmste Charakterzug  dieses Klosters. Man gab ihm den Ehrentitel „Terra Sanctorum“ – „Land der Heiligen.“

385 begab sich Martin nach Trier an den Hof des Kaisers Maximus, um für den Häretiker Priscillian Fürsprache einzulegen.

Die Bischöfe hatten den Irrlehrer verurteilt. Nun sollte der Kaiser das Todesurteil an ihm vollstrecken lassen. Martin argumentierte: „Das Schwert des Kaisers soll keine Glaubensfragen entscheiden.“ Doch seine Intervention war ohne Erfolg. Nach seiner Abreise wurden Priscillian und seine Anhänger gefoltert und verbrannt. Entsetzt über diese Vorgehensweise mied Martin fortan den Kontakt mit seinen Amtsbrüdern. Umso leidenschaftlicher widmete er sich der Missionsarbeit. Dabei kam er in die entlegendsten Dörfer, wo er noch tiefes Heidentum vorfand. Als ehemaliger Soldat verstand Martin den Umgang mit den einfachen Leuten. Er verkündete die Botschaft vom barmherzigen Gott. An die Stelle der heidnischen Kultstätten gründete er  christliche Gotteshäuser, die er durch Priester von Marmoutier betreuen liess. Noch heute gibt es dort Pfarrgemeinden, die sich rühmen, unmittelbar auf Martin zurückzugehen.

Im Herbst 397 reiste Martin ins 5o km entfernte Candes, um einen Streit zwischen der dortigen Geistlichkeit zu schlichten. Hier ereilte den Achtzigjährigen der Tod am 8. November. Viele Mönche und Klosterfrauen und eine große Volksmenge kamen zu den Begräbnis-feierlichkeiten am 11. November  auf dem öffentlichen Friedhof westlich vor der Stadt Tours. So verabschiedete man sich von einem Mann, der nicht durch Waffengewalt und Härte, sondern durch Liebe und Barmherzigkeit seine Zeit kultiviert hat.

Martin wurde ein Vorbild für die germanischen Franken. Mit der Taufe ihres Königs Chlodwig zu Weihnachten 498/99 übernahm auch die Bevölkerung den christlichen Glauben. Chlodwig erhob Martin zum Nationalheiligen und zum Patron des fränkischen Königshauses.

Das Grab des Martin in Tours wurde ein Wallfahrtsort ersten Ranges.

Bald war den Pilgern die schlichte Grabkapelle, die Martins Nachfolger hatte errichten lassen, des großen Heiligen nicht mehr würdig. Man baute eine prächtige Kirche. Der Historiker und Bischof, Gregor von Tours, beschreibt um 580 in seiner Frankengeschichte die Ausmasse dieser Kirche: „Sie hat 160 Fuss Länge, 60 Fuss Breite; ihre Höhe bis zur Decke beträgt 45 Fuss; im Altarraum hat sie 32 Fenster, im Schiff 20, und 41 Säulen; im ganzen Gebäude 52 Fenster, 120 Säulen und 8 Türen.“

In dieser Kirche hatte Chlodwig am Martinstag 498 feierlich verkündet, er werde sich und seine Familie taufen lassen.

Nach Rom wurde die Grabeskirche des Martin die meistbesuchte Wallfahrtsstätte der Christenheit.

Der Dichter Reinhold Schneider schreibt über Martin: „Das Volk entschied sich für Martin, für seine Haltung, diese Art, Christ zu sein und der Welt zu dienen, ohne an ihr teil zu haben. So war er lange, ist er vielleicht heute noch der volkstümlichste Heilige. Unter seinem Vorbild breitet sich die Wahrheit aus.“

Der Mantel des Heiligen (lateinisch cappa oder capella) nahm König Chlodwig als Banner mit in die Schlacht. Er wurde als Reichsreliquie im Königspalast in Paris aufbewahrt. Man gab diesem Oratorium den Namen „Sainte-Chapelle.“ Schließlich wurde jedes kleinere Gotteshaus „Kapelle“ genannt.

Martin wurde  auch die Idealgestalt für das mittelalterliche Rittertum, das sich der Ehrfurcht vor Gott  und den Mitmenschen bewußt war, wie es im Ritterepos „Parzival“ des Wolfram von Eschenbach heißt:

„Lasst euch der Dürftigen erbarmen und helft in ihrer Not den Armen mit Milde und mit Gütigkeit. Übt euch in Demut allezeit.“

Von der alten Martinskirche in Tours sind heute nur noch die Reste von zwei Türmen erhalten. In der französischen Revolution wurde die Kirche als Militärstall genutzt. Ihrer Bleidächer beraubt, stürzte sie 1797 teilweise ein. 1802 gab der Präfekt von Tours den Befehl zum Abbruch. Wo einst der Chorraum  und das östliche Querhaus gestanden hatten, wurde eine Straße angelegt, die Rue des Halles. Damit wollte man ein Zeichen setzen, daß der Martinskult für immer ausgelöscht sei. Aber das Interesse am hl. Martin war keineswegs erloschen. Bei Ausgrabungen entdeckte man 1860 das Grab des Heiligen und Stimmen wurden laut, die alte Martinskirche wieder aufzubauen.

 

Doch der Staat und die Stadt Tours weigerten sich, die Rue des Halles für den Kirchenbau zu opfern. Es kam zu einem Kompromiss. Nach den Plänen des Architekten Victor Laloux entstand in den Jahren 1887 – 1902 über dem Martinsgrab ein kleinerer Neubau in romanisch-byzantinischem Stil. Die heutige Martinskirche  ist eine kreuzförmige Basilika mit einer Vierungskuppel. Unter ihr befindet sich die Krypta mit dem Grab des Heiligen. Eine Bronzestatue des Martin krönt die Kuppel. Segnend erhebt diese Martinsskulptur ihre Rechte über Stadt und Land.

Martin ist der erste richtige Heilige, der nicht den Martyrertod gestorben ist, an dessen Fest sich  bis in unsere Zeit das ländliche Leben orientierte. Der 11. November, der Tag seiner Grablegung, war ein wichtiger Einschnitt im Jahresablauf. Im bäuerlichen Verständnis markierte der Martinstag den Anfang des Winters. Der Heilige verkörperte den Sommer, der nicht zu frieren braucht und deshalb seinen Mantel teilen kann. Der Bettler personifizierte den Winter. Der Schwertstreich war gleichbedeutend mit der Teilung des Jahres in die warme und die kalte Jahreszeit.

Am Ende des Sommers war aber auch die Zeit, Dank zu sagen für die Ernte, ebenso für die Arbeit, die Pfarrer und Lehrer geleistet hatten. Nicht selten erhielten sie zu Martini kleine Geschenke, ein Stück Federvieh, aber auch neuen Wein, der bis Mitte November herangereift war.


Dass viele zu Martini tüchtig zulangten und manches Martinsfest zur rauschenden Feier ausartete, lag vor allem an der weihnachtlichen Fastenzeit, die am Martinstag begann. Wie der Aschermittwoch vor Ostern, so markierte das Martinsfest den Auftakt zum vierzigtägigen Adventfasten. Der Vorabend zum Martinstag war die letzte Gelegenheit, noch einmal tüchtig zuzulangen.

Wirklich populär wurde der Heilige im 7. Jh., als Papst Martin I. den 11. November für die ganze Christenheit zum Feiertag erklärte. Am Vorabend des Festtages zogen die Kleriker mit brennenden Kerzen feierlich zur 1. Vesper in die Kirche. Aus dieser Lichterprozession dürften sich später die Martinszüge entwickelt haben. Seit dem 13. Jh. bis zur Liturgiereform in jüngster Zeit wurde beim Gottesdienst die sogenannnte „Lucerna-Perikope“ aus dem Lukasevangelium vorgelesen: „Niemand zündet ein Licht an und stülpt ein Gefäß darüber, sondern man stellt es auf einen Leuchter, damit es allen leuchte, die im Hause sind……“ (Lk 11, 33 – 36) In der anschließenden Predigt forderten die Geistlichen ihre Hörer auf, ihr Licht leuchten zu lassen und den Nächsten durch gute Werke ein Licht voranzutragen.

Um 1500, als unsere Martinsfigur entstanden ist, waren die meisten Leute des Lesens und Schreibens unkundig. Für sie war eine solche Darstellung eine Glaubensunterweisung, für uns ist sie es immer noch. Schließlich ist Martin eine Gründergestalt unseres europäischen Christentums, ein bleibendes Vorbild tätiger Nächstenliebe. Das brennende Licht, die Fackel in unseren Händen, ist außerdem ein Zeichen der  Wachsamkeit für die Ankunft des Herrn, der uns tagtäglich im Mitmenschen begegnet. St. Martin, seine Verehrung und das damit verbundene Brauchtum, geben uns  Orientierungsmarken für unsere Lebensordnung. Die Tat des Martin darf nicht zu Ende gehen. Der Heilige leuchtet durch die Jahrhunderte bis in unsere Tage, und sein Mantel ist Ausdruck seiner spontanen Hilfsbereitschaft.

Der evangelische Historiker und Hagiograph Walter Nigg sagt: „Erkennt man bei der Mantelteilung nicht den Zusammenhang von Martin, Bettler und entblößtem Christus, dann ist man an ihrer wahren Bedeutung achtlos vorbeigegangen.“

Rektor Heinrich Avesiers, ( + 1963 ) langjähriger Vorsitzender des St. Huberter Martins-Komitees und Verehrer des hl. Martin, beginnt 1954 das neue Protkollbuch des Martinskomitees mit der Bitte:

„St. Martin, schütze unsere Jugend und unsere Heimat!

Mit diesem Wunsch beginne ich dieses neue Protokollbuch des St. Martins-Komitees  St. Hubert, im November-Monat 1954

Heinrich Avesiers, Vorsitzender.“

Hermann-Josef Ortens, Pfr. i. R.

Verein

Vorstand